Hier im Südosten Englands lässt sich die charmante Exzentrik der Briten wunderbar nachvollziehen. So kam es in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts in Mode, die aktuell modernsten und beeindruckendsten Lokomotiven in der Größe 1:3 nachzubauen und diese nach Regelfahrplan auf eigens errichteten Strecken auf entsprechend schmaler Spur verkehren zu lassen.
Die größte derartige und noch heute im Betrieb stehende Strecke ist die „Romney, Hythe & Dymchurch Railway“, die sich unweit der Küste zum Ärmelkanal nahe Dover und Folkestone befindet. Eröffnet wurde sie im Jahr 1927 und legt bis heute zwischen ihren beiden Endpunkten Hythe und dem Leuchtturm von Dungeness eine Strecke von 22,5 Kilometern (13,5 Meilen) zurück. Die Spurweite beträgt – genau wie bei der Wiener Liliputbahn – 381 Millimeter (15 Zoll). Einst bekannt als die „kleinste öffentliche Eisenbahn der Welt“ verkehrt sie heute von Ostern bis Ende September täglich sowie an den Wochenenden im März und Oktober mit bis zu 14 Zugpaaren pro Tag.
Im Einsatzbestand stehen aktuell elf Dampflokomotiven und zwei Dieselloks, die lange Passagierzüge mit Platz für bis zu 200 Fahrgäste ziehen. Die Dampflokomotiven haben als Vorbild britische (Schnellzuglokomotiven 2’C1′ „Flying Scotsman“ mit 5 Exemplaren sowie 2’D1′ mit 2 Exemplaren), amerikanische (Pacificloks 2’C1′ mit 2 Exemplaren) und deutsche (Schnellzuglokomotive 2’C1′ mit einem Exemplar sowie ein kleiner B-Kuppler) Vollbahnfahrzeuge. Die Diesellokomotiven repräsentieren aktuellere Vorbilder aus Großbritannien. Die Passagierwagen haben zwei Sitze nebeneinander, hauptsächlich Bänke und teilweise auch Sessel. Zusammengestellt sind feste Züge, die jeweils in unterschiedlichen Farben lackiert sind.
Befahren wird die Strecke ausgehend von der alten Hafenstadt Hythe, einem Mitglied der nominell noch heute bestehenden Konförderation der „Cinque Ports“ (Fünf Häfen) aus den 11. Jahrhundert. Ausgehend von diesem Kopfbahnhof mit 3 Bahnsteiggleisen und einem Überholgleis für das Umsetzen der Loks ist nach 20 Minuten Fahrt Dymchurch erreicht, ein kleiner Küstenort mit Strand. Über die Haltepunkte „St. Mary’s Bay“ und „Romney Warren Halt“ wird nach weiteren 15 Minuten das Zentrum des Marschlands „Romney Marsh“, die namensgebende Stadt „New Romney“ erreicht. Hier befindet sich der Betriebsmittelpunkt der RH&DR mit siebengleisigem überdachten Bahnhof, Drehscheibe, Bekohlungsanlage und Heizhaus sowie Reparaturwerkstätte. Sämtliche Lokomotiven sind hier remisiert.
Die Strecke führt weiter nach Süden über den Haltepunkt „Romney Sands“ (einer Urlaubssiedlung mit Strand) zum Endbahnhof „Dungeness“ direkt am historischen Leuchtturm, der 27 Minuten nach der Abfahrt aus „New Romney“ erreicht ist.
Ist die Strecke im nördlichen Teil zwischen Hyth und New Romney noch als zweigleisige Hauptstrecke angelegt, so ist der südliche Teil zwischen New Romney und Dungeness komplett eingleisig. Kreuzung der nord- und südwärts fahrenden Züge ist stets New Romney, wo ein bahnsteiggleiches Umsteigen in den jeweils anderen Zug möglich ist.
Dabei haben beide Streckenteile ganz unterschiedlichen Charakter: Der nördliche Teil verläuft zumindest teilweise durch landwirtschaftlich genutztes Gebiet „im Grünen“. Der südliche Teil dagegen kann eine gewisse Tristesse nicht verleugnen: Aufgrund der mittlerweile durchgängigen Bebauung des direkten Küstenstreifens verläuft die Strecke quasi an den Hinterhöfen vorbei durch ein flaches, wenig genutztes und als eher langweilig zu bezeichnendes Land. Auch die Bebauung wird einfacher und ungepflegter, je näher man Dungeness kommt. Trotz weiter (Kies)Strände und der Eigenwerbung als Urlaubsgegend reizt ein längerer Aufenthalt hier zweifellos kaum.
Weithin sichtbar ragt das hiesige Atomkraftwerk aus dem Nichts des erst in den letzten 200 Jahren aus Sedimentablagerungen entstandenen Marschlandes, das ebenfalls nahe dem Endbahnhof liegt. Dem Besucher bleibt außer einem Besuch des historischen Leuchtturms und des unweit gelegenen Strands kaum mehr als das Bahnhofscafé von Dungeness, um die Zeit bis zur Rückfahrt zu überbrücken.
Trotzdem sei eine Fahrt unbedingt empfohlen, ebenso wie ein Besuch des Bahnhofs von „New Romney“, der bei seinen regelmäßigen Zugkreuzungen ein unglaubliches Flair von echtem Dampfbetrieb und gleichzeitig ungläubigem Staunen über die Größe der Lokomotiven und Wagen bietet.
Steht der Besucher neben dem Zug, so vermag er angesichts einer Wagenhöhe von nur rund einem Meter kaum glauben, dass man darin genügend Platz hat – tatsächlich ist das Raumgefühl für einen „Miniaturzug“ in Größe 1:3 aber nicht schlecht. Auch der Fußraum der vis-a-vis-Abteile mit jeweils eigenem Zugang über Schiebetüren ist ausreichend groß. Je Zug wird in der Regel auch ein offener Wagen mitgeführt. Angesichts des oft regnerischen englischen Wetters sind die geschlossenen Wagen aber auch in den Sommermonaten dringend notwendig.
Ohnehin mag man an einem windigen und regnerischen Tag kaum glauben, dass diese kleinen, wenn auch langen Züge tatsächlich in der Lage sind, diese doch nicht unerhebliche Strecke sicher zu bewältigen.
Alleine die Ein- oder Ausfahrt eines Zuges von „New Romney“ nach Süden mit der Durchfahrt durch die winzig erscheinenden Durchlässe der Straßenbrücke (O-Ton eines Besuchers:„Da soll ein Zug mit Passagieren durchpassen?“) ist die Reise wert!
Und wenn der Heizer aus einem eisernen Kübel Kohlen im Tender nachfüllt und der Lokführer zwei große Becher Tee direkt unter den Reglern abstellt, beide Bedienstete danach kaum nebeneinander auf die schmale Bank passend Platz nehmen, wobei das Dach des Zuges kaum bis auf Brusthöhe reicht – dann hat dies schon eine ganz unverwechselbare Atmosphäre!
Die Lokomotive raucht bereits kräftig und nach einer Lautsprecherdurchsage ganz wie auf allen anderen größeren Bahnhöfen auch wird das Formsignal auf freie Fahrt gestellt und der Abfahrtsauftrag erteilt. Unter mächtiger Dampfabgabe setzt sich der 11:30 Uhr-Zug nach Dungeness in Bewegung und macht sich auf seine fast halbstündige Fahrt durch den strömenden Regen über das windumtoste Marschland nach Süden.
Und wer nicht nur als Fahrgast den Betrieb erleben möchte, sondern selbst einmal an den Reglern stehen, pardon: sitzen möchte, der kann dies in speziellen Kursen selbst tun. Vom einfachen Mitfahren als Basiskurs bis hin zum Selbstfahren als Ganztageskurs wird alles angeboten – letzteres aber nur in der betriebsfreien Zeit von Oktober bis März.
Übrigens wird der Betrieb größtenteils mit freiwilligen unbezahlten Mitarbeitern aufrecht erhalten, die in allen Bereichen tätig sind. Auffällig ist deren aktive Gewinnung mittels Flyern und der Einladung, bei einer Tasse Tee gemeinsam die Möglichkeiten der Mitarbeit und die Vorstellungen des potentiellen Kandidaten zu besprechen – dem bei entsprechender Eignung und Nutzung von Fortbildungsangeboten alle Bereiche bis hin zum Lokführer offenstehen.
Weitere Informationen, auch zur Anfahrt, bietet die „Romney, Hythe & Dymchurch Railway“ auf ihrer Website.
(Besuch im Mai 2011)