Die „Wealds“ sind ein Hügelzug im Südosten Englands, auf der Karte etwas rechts unterhalb von London. Die Region in den Grafschaften „Kent“ und „East Sussex“ ist ein starkes Pendler- und Einzugsgebiet in die britische Hauptstadt, hat aber nicht den industriell geprägten Charakter anderer Bereiche Südostenglands. Im Gegenteil, das sanft geschwungene Hügelland ist eher touristisch geprägt und bezaubert den Besucher mit seinen wunderschönen historischen Kleinstädten, engen Gassen und immer wieder überraschenden Ausblicken in eine liebliche, stets grüne Landschaft.
Bereits um 1850 entstanden Pläne für eine Eisenbahn durch diese Region. Eine Vielzahl von Problemen verzögerte aber deren Bau, bis dann schließlich am 2. April 1900 die Eröffnung der „Rother Valley Railway“ gefeiert werden konnte. Diese folgte weitgehend dem Lauf des hier nur schmalen Flusses Rother und verband die Hauptlinie London-Dover mit der Linie London-Brighton zwischen den Stationen Robertsbridge und Headcorn. Die Strecke entwickelte jedoch nie größere Bedeutung. So musste bereits 1954 der Personenverkehr eingestellt werden, der Güterverkehr folgte 1961.
Doch zurück zur „Kent & East Sussex Railway“. Diese hat das Glück, dass aufgrund der geringen Verkehrsbedeutung der Strecke in ihrer aktiven Zeit grundlegende Erneuerungsarbeiten weitgehend ausgeblieben sind – und so befinden sich große Teile der Strecke im Zustand ihrer Eröffnung vor über hundert Jahren! Mit viel Liebe zum Detail wurden von den hauptsächlich ehrenamtlichen Mitarbeitern sowohl die Strecke mit allen Details wie Bahntoren (statt Schrankenanlagen), Stellwerken und Bahnhöfen als auch die Lokomotiven und Wagen restauriert.
Aber nun genug der Vorrede: Machen wir uns gemeinsam auf die Fahrt mit dem 10:45 Uhr Dampfzug von Tenterden nach Bodiam. Am heutigen Tag gibt es insgesamt fünf Zugpaare, wobei zwei davon mit einem Diesel-Doppeltriebwagen aus dem Jahr 1958 geführt werden und drei Zugpaare mit dem klassischen Dampfer.
Der Bahnhof von Tenterden ist auch ohne Fahrt einen Besuch wert. Typisch britisch empfängt den Besucher eine üppige Blumenpracht. Neben dem Hausbahnsteig sind auf zwei weiteren Gleisen historische Pullmann-Wagen, darunter mehrere Speisewagen abgestellt. Diese werden bei Bedarf auf Strecke gebracht, gerade mit dem Speisewagen finden regelmäßig erstklassige Dinnerfahrten statt. Wobei angemerkt sein muss, dass das britische – zumindest das südenglische – Essen in den letzten Jahren einen unglaublichen Qualitätssprung gemacht hat und sich heute vor hochwertiger kontinentaleuropäischer Küche nicht mal mehr ansatzweise zu verstecken braucht!
Am Bahnsteig wartet bereits der bereitgestellte Zug mit fünf vierachsigen Personenwagen der 1930er- und 1950er Jahre, von denen drei für Reisegruppen reserviert sind. Als Zugpferd dient heute Lok Nr. 23, ein C-Kuppler aus dem Jahr 1952. Abweichend von Gepflogenheiten anderer Länder sind die Wagen noch versperrt – erst wenige Minuten vor der Abfahrt erfolgt die Öffnung der Türen. Auch die den Wagen vorherrschende dritte Klasse verfügt über üppig gepolsterte Sessel und mehr als ausreichenden Fußraum. Lediglich zu umfangreich sollte der Fahrgast nicht sein: Vier Sitzplätze je Bank bietet ein Abteil – in der ersten Klasse dagegen sind es nur zwei Plätze nebeneinander. Wem dies lieber ist: Gegen die geringe Aufzahlung von nur einem Pfund je Fahrt (zu entrichten direkt beim Schaffner) ist ein erstklassiges Fahrgefühl erlebbar.
Ganz so eng nimmt man den Fahrplan hier bei der „K&ESR“ nicht – gerne wartet man auf einige verspätete Fahrgäste, die der Stationsvorsteher persönlich zu einem freien Abteil geleitet. Doch dann wird es ernst: Der direkt an der Bahnhofsausfahrt liegende Bahnübergang wird geschlossen. Eine Schrankenanlage gibt es dazu jedoch nicht, sondern es werden zwei große Tore bewegt. Diese versperren im Grundzustand die Eisenbahn (!) und erst nach händischer Betätigung beider Torflügel schließen sie die Straße. Ein großes Schild auf dem Tor warnt die Autofahrer, bei Nacht unterstützt von einer kleinen auf dem Torflügel angebrachten Laterne.
Die Strecke ist damit frei für unseren Zug, die Betriebsamkeit am ebenfalls direkt am Bahnübergang gelegenen Stellwerk nimmt zu – und damit wird auch schon der Abfahrtsauftrag erteilt und die fünfzigminütige Fahrt beginnt. Langsam nimmt der Zug Fahrt auf und entschwindet den Blicken der zurückbleibenden Besucher in einer leicht ansteigenden Kurve im Wald.
Auf geschraubten Schienen geht es mit entsprechender Geräuschkulisse vorbei an erschreckten Rinder- und Schafherden bis nach der Kreuzung von zwei Bahnübergängen die Station Rolvenden erreicht wird. Hier ist die Lokomotivwerkstätte untergebracht mit einer kleinen Aussichtsplattform auf das Werkstattgeschehen für interessierte Besucher. Weiter geht es vorbei an den für diese Gegend typischen Hopfendarren und ein Stück entlang dem schmalen Wasserlauf „Newmill Channel“ nach Wittersham Road – hier wird unser Zug auf der Rückfahrt eine ordentliche Steigung zu bewältigen haben und schwer arbeiten müssen. Doch abwärts geht es immer leichter und heute wird Wittersham Road ohne Halt durchfahren – die namensgebende Straße ist sogar mit einem eigenen Schrankenwärterhäuschen ausgestattet.
Auf einer der wenigen Kunstbauten überqueren wir den hier noch sehr schmalen Fluß Rother und nähern uns Northiam. Doch vor Einfahrt in den Bahnhof hat der Zug zwingend anzuhalten – denn nun steigt der Zugführer ab, geht voran, öffnet bzw. schließt das Bahntor der Straße und läßt den Zug erst dann weiterfahren. In Northiam ist ein Aufenthalt von rund acht Minuten, da die Lokomotive Wasser nehmen muss. Zeit genug für einen Blick über den Bahnsteig mit den malerisch drapierten Stapeln alter Koffer und nostalgischen Anwerbeplakaten der britischen Armee.
Ab hier führt das letzte Stück unserer Tour im Tal am Hang entlang recht gerade bis zum Endpunkt Bodiam. Die gleichnamige Burgruine kommt schon sehr früh in Sicht, dem Fotografen bieten sich in Fahrtrichtung rechts wunderschöne Motive. Damit ist dann Bodiam erreicht, wo bereits eine große Zahl an Fahrgästen auf die Fahrt in Richtung Tenterden wartet.
Den aussteigenden Passagieren bietet sich nun eine schöne Gelegenheit, das Umsetzen der Lokomotive mit zweimaligem Öffnen und Schließen der Bahntore zu beobachten. Danach lohnt ein Besuch des „Bodiam Castle“ mit seinem netten „Tea Garden“ und dann die Rückfahrt mit dem übernächsten Zug, natürlich wieder geführt von unserer Dampflok Nr. 23.
Wer nur Zugfahren möchte: Alle Fahrkarten sind Tagestickets, mit denen man nach Herzenslust unterwegs sein und z.B. dem Lokführer des Dieseltriebwagens auch über die Schulter schauen kann.
Und vielleicht wird ja auch ein weiteres Projekt in den nächsten Jahren zum Erfolg: Die drei Meilen kurze Verlängerung von Bodiam nach Robertsbridge, wo dann Anschluß an die Hauptbahn von und nach London besteht. Dieses Vorhaben wird aber von einer anderen Organisation, der „Rother Valley Railway“ betrieben. Bleiben wir gespannt!
Apropos Organisation: Die K&ESR sucht stets freiwillige Mitarbeiter und bietet Ausbildungen zum „Crossing Keeper“ (also dem Schrankenwärter, möglich ab Alter 16 Jahre) bis hin zum Lokführer oder Stellwerker an. Freiwillige werden mittels hochwertiger und ansprechender Broschüren aktiv angesprochen. Es fällt aber auf, dass das Alter zumindest des unter der Woche aktiven Personals naturgemäß eher im Seniorenbereich angesiedelt ist. Dafür ist man mit enormem Engagement bei der Sache und überträgt diese Begeisterung bei einet netten Plauderei gerne auf die interessierten Besucher.
Ausführliche Informationen über diese liebenswerte Bahn sind hier zu finden.
(besucht im Juni 2011)